Kreidefelsen auf Rügen
1818
Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart
Caspar David Friedrich wurde von seinen Zeitgenossen als melancholischer und nachdenklicher Charakter beschrieben. Es war daher nicht ohne Überraschung für seien Freunde, als er im Januar 1818 verkündete, dass er heiraten werde und zwar die fast zwanzig Jahre jüngere Christiane Caroline Bommer. Sie gingen daraufhin auf Hochzeitsreise, die sie unter anderem nach Rügen führte, wohin Friedrichs Bruder Christian sie begleitete. Noch im selben Jahr entstand das Gemälde Kreidefelsen auf Rügen. Weil dort im Vordergrund drei Menschen zu sehen sind, zwei Männer und eine Frau, wurde das Gemälde denn auch immer wieder als Hochzeitsbild interpretiert. Dafür spricht insbesondere die Berührung der Äste in der oberen Bildhälfte, ein Motiv, das auch Philipp Otto Runge in seinem Freundschafts- und Liebesbild Wir Drei verwendet hatte. Es kommt hinzu, dass es sich bei diesem meisterhaften Gemälde mit den hellen Farben und der aussergewöhnlichen Komposition um eines der fröhlichsten Werke in Friedrichs Schaffen handelt.
Wie so häufig bei Friedrich greift aber eine einzelne Bildaussage zu kurz. Auch eine religiöse Interpretation wurde vorgeschlagen – beim streng gläubigen Protestanten Friedrich sicherlich naheliegend. So ist das Bild in drei Zonen gegliedert, Vorder-, Mittel- und Hintergrund, denen jeweils verschiedene Lebensphasen zugeordnet werden können. Die Figuren (und im Grunde auch wir Betrachtende) stehen auf der vordersten, vegetabilen, grünen Zone des Lebens, vor dem sich die lebensfeindlichen Zacken der Felsen auftun, in die zu stürzen den Tod bedeutet. Hinter dieser Todeszone eröffnet sich sodann die Unendlichkeit des Himmels, der mit der Unermesslichkeit des Meeres verschmilzt – oder eben christlich gedacht: das Jenseits.
Ob dies genauso gelesen werden muss und welche weiteren möglichen Deutungen hinzukommen, mag jeder für sich entscheiden. Es gehört zum Wesen von Friedrichs Kunst, dass darüber gerätselt und gestritten werden kann; vor allem aber auch, dass sie zur Kontemplation über die Natur und das Leben einlädt.